Patient im Spital mit seiner Grossmutter.
09.06.2022
Hinter den Kulissen

Die Sprachlosigkeit des Krieges

Seit Ausbruch des Krieges betreuen wir auch ukrainische Patientinnen und Patienten, die aus ihrem Land geflüchtet sind. Für sie wurden spezielle Sprechstunden in der Notfallpraxis eingerichtet. Die sprachlichen Hürden erschweren die Abläufe aber massiv. Und auch für die ukrainischen Flüchtlinge ist die Situation nicht einfach.

Nikita sitzt in Shirt und Trainerhose auf dem Spitalbett. Seine braunen Haare sind ganz kurz geschoren. Rechts auf seinem Kopf ist eine lange Narbe zu sehen. Der 15-Jährige ist zur Zeit stationär am Kinderspital und hat gerade sein Gipfeli zum Frühstück fertig gegessen. Das Essen hier sei super, sagt er und strahlt, «und es ist toll, dass ich auswählen kann, was ich haben möchte!». Larisa, seine Grossmutter, nickt: Besonders Schweizer Käse habe es ihm sehr angetan.

Mit dem Schweizer Car nach Küsnacht

Nikita und Larisa sind Mitte März in die Schweiz gekommen. Damals begann die Regierung ihrer Heimatstadt Schytomyr im Nordwesten der Ukraine, kranke Kinder zu evakuieren. Sie durften je eine erwachsene Begleitperson mitnehmen. Da Nikita auf einen Rollstuhl angewiesen ist und intensive Betreuung braucht, entschied sich die Familie, die Grossmutter mitzuschicken. Die Mutter blieb mit den beiden jüngeren Geschwistern zurück. Der Vater wurde als Soldat eingezogen. Zuerst fuhren sie mit dem Bus nach Polen. Dann kam der Küsnachter Unternehmer Alexander Lüchinger und holte insgesamt 24 krebskranke ukrainische Kinder und ihre Begleitpersonen mit Cars ab. Seither sind sie in einem stillgelegten Altersheim in Küsnacht untergebracht.

Nach einem Hirntumor im Rollstuhl

Nikita ist krank seit er drei Jahre alt ist. Damals wurde bei ihm ein Hirntumor entdeckt. Er wurde mehrmals operiert, aber der Tumor hatte schwere Folgen für seinen Körper: Nikita begann zu schielen und bekam Probleme mit den Beinen. Heute kann er nur noch an Krücken gehen. 2012 musste ihm zudem ein sogenannter VP-Shunt gelegt werden, eine künstliche Verbindung zwischen dem Hirn und der Bauchhöhle, die das Hirnwasser in den Bauch hinabführt. Kurz vor Beginn des Krieges ging es Nikita plötzlich schlechter. Es zeigte sich, dass sein Shunt nicht mehr richtig funktionierte. Am Kinderspital wurde dieses Problem nun behoben. Es seien hier alle sehr nett, betonen die 56-jährige Larisa und ihr Enkel. Sie seien sehr dankbar für die Hilfe. Nur mit dem Fernsehprogramm sei er nicht ganz zufrieden, grinst Nikita: «Es gibt hier leider keine Sender auf Ukrainisch!»

«Eine Verständigung ist überhaupt nicht möglich»

Zur Zeit ist die Lage in ihrer Heimatstadt ziemlich ruhig. Die Familie sei zuversichtlich und wolle trotz Krieg ein möglichst normales Leben führen. Sie hätten bereits Kartoffeln angepflanzt, freut sich Larisa. Iryna Angeletti, die im im Neoscreening-Labor arbeitet und in diesem Gespräch hier als Dolmetscherin dient, muss lachen: «Die Ukrainerinnen und Ukrainer lassen sich eben nicht unterkriegen, sie müssen immer etwas zu tun haben!». Übersetzerinnen wie sie sind zur Zeit am Kinderspital sehr gefragt. Denn die sprachliche Barriere sei die grösste Herausforderung bei der Betreuung der Flüchtlinge, erklärt die Leitende Ärztin Manuela Albisetti. Dank der Hilfe von Spenderinnen und Spendern konnten wir Übersetzerinnen engagieren, die uns nun im Behandlungsalltag unterstützen. Sie koordiniert die medizinische Betreuung der ukrainischen Patientinnen und Patienten. Es handelt sich dabei um Kinder mit Vorerkrankungen, eben etwa mit onkologischen Befunden, oder mit Epilepsie, orthopädischen Problemen. «Nur sehr wenige von ihnen sprechen noch andere Sprachen, und auch all ihre Dokumente sind auf Ukrainisch. Eine Verständigung ist so überhaupt nicht möglich». Manchmal, wenn gerade niemand zum Dolmetschen erhältlich sei, greife sie deshalb auf eine Übersetzungs-App am Handy zurück, so Manuela Albisetti.

Momentan reicht die Notfallpraxis aus

Weil die ukrainischen Kinder multiresistente Keime einschleppen könnten, empfängt sie das Behandlungsteam zuerst in der Notfallpraxis. Dort werden sie auf die Erreger getestet, und je nach Resultat isoliert oder normal in der Poliklinik weiterbehandelt. Das bedeutet natürlich auch einen Mehraufwand für das Spitalpersonal. Bis jetzt sei der noch gut zu meistern, sagt Jutta Khilji, Leiterin Pflegedienst der chirurgischen Klinik und Mitglied der Arbeitsgruppe für die ukrainischen Patientinnen und Patienten: «Momentan reicht die Lösung mit der Notfallpraxis aus.» Falls es dennoch eines Tages nötig werde, für die Betreuung der ukrainischen Kinder und Jugendlichen eine eigene Station einzurichten, wie es im Stufenplan vorgesehen ist, könnte es zu personellen Engpässen kommen. «Wir hoffen, dass wir dann Fachleute finden können, die sowohl den nötigen medizinischen als auch den sprachlichen Background haben», erklärt Jutta Khilji.

Das Schicksal macht auch mal Bauchweh

Diese spezielle Situation mit den ukrainischen Flüchtlingen ist für alle eine völlig neue Herausforderung. Und eine, die nicht spurlos am Personal vorübergeht. Das Mitgefühl für die Betroffenen sei spürbar, sagt Jutta Khilji. In den Sprechstunden gehe es zwar nie um den Krieg. Die Krankheit stehe im Vordergrund, fügt Manuela Albisetti hinzu. «Aber das Schicksal kommt einem dann manchmal am Abend in den Sinn». Sie denkt dabei vor allem an einen der Onkologie-Patienten, ein Waisenkind, das ganz alleine in die Schweiz flüchtete. Keine Eltern, eine schwere Krankheit und die Heimat im Krieg – solche Geschichten machten ihr ein «richtiges Loch im Bauch». Der 15-jährige Nikita hat zum Glück eine Familie. Zurzeit ist zwar nur Grossmutter Larisa bei ihm, mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinem Bruder in Schytomyr telefoniert er aber jeden Tag. «Meinen Kater Leon vermisse ich auch sehr.» Wann sie sich alle wiedersehen, ist noch unklar. Es klopft an der Tür des Spitalzimmers: Eine Sozialarbeiterin möchte mit Nikita und Larisa sprechen. Auch sie hat eine Dolmetscherin dabei.