Clemens Schiestl blickt in die Kamera
27.10.2022
Forschung

«Hautersatz soll zum Goldstandard werden» – Experteninterview mit Dr. med. Clemens Schiestl

Über 20 Jahre lang hat ein Forschungsteam am Kinderspital Zürich an einem Hautersatz aus dem Labor geforscht, der aus körpereigenen Zellen besteht. Zusammen mit seinem Team konnte der Chirurg Clemens Schiestl mithilfe dieses Hautersatzes das Leben von Kindern retten, die mit dem bisherigen Standardverfahren nur schwer überlebt hätten.

Interview: Mirjam Schwaller, Foto: Barbora Prekopova, Illustrationen: Susanne Staubli

Herr Schiestl, welches ist die Standardbehandlung von brandverletzten Kindern heute, der sogenannte Goldstandard?

Goldstandard ist bis heute die Behandlung mittels Eigenhautverpflanzung: Die verbrannten oder verbrühten Hautstellen werden mit sogenannter Spalthaut bedeckt, einer dünnen Hautschicht, die das chirurgische Team der Patientin oder dem Patienten an unversehrten Körperstellen entnimmt (siehe Infobox). Allerdings ist diese Behandlung limitiert: Kinder, deren Haut zu mehr als 80 Prozent verletzt ist, verfügen nicht über genügend unversehrte Hautareale, an denen eine Spalthautentnahme möglich wäre. Ihr Leben lässt sich mit diesem Verfahren nicht mehr retten.

Was gab erstmals den Anstoss für die Entwicklung von Hautersatz?

Der Biologe Howard Green entdeckte per Zufall, dass sich Hautzellen im Labor vermehren lassen. Er entwickelte daraufhin einen Pionier-Hautersatz, der 1984 den zwei 5- und 7-jährigen Brüdern Glen und Jamie Selby in den USA das Leben rettete: Ihre Haut war zu 94 Prozent verbrannt. Heute sind die Selby-Bruder um die 45 Jahre alt und es geht ihnen gut. Dennoch hat es Greens Hautersatz nicht geschafft, zur Standardtherapie zu werden: Seine Transplantate waren zu wenig robust und zu anfällig für Infektionen. Bis heute ist es deshalb eine Ausnahme geblieben, dass Kinder mit derart grossflächigen Verbrennungen gerettet werden können.

Wie kam es dazu, dass das Kinderspital Zürich begann, Haut im Labor herzustellen?

Unser ehemaliger chirurgischer Direktor Martin Meuli reagierte sehr früh auf diese neuen Entwicklungen in der Hautersatzforschung. Zuerst behandelten wir hier Kinder mit Hautersatz aus patienteneigenen Zellen, den wir in Amerika herstellen liessen. Doch der Hautersatz war sehr verletzlich und die Kinder litten häufig unter offenen Wunden, was ihre Lebensqualität minderte. Deswegen entstand der Wunsch, den Hautersatz hier vor Ort selber – und besser – herzustellen. In den 90er-Jahren holte Martin Meuli den Biologen Ernst Reichmann zu uns, der viel Erfahrung mit der Herstellung von Gewebe im Labor, sogenanntem Tissue Engineering, hatte und im Kinderspital Zürich die Tissue Biology Research Unit aufbaute.

Welchen Entwicklungsprozess durchlief unser Hautersatz aus dem Labor?

Die erste Version unseres Hautersatzes bestand aus zehn Schichten Oberhautzellen. Das erwies sich aber als zu wenig robust, da die Lederhautzellen fehlten. Reichmanns Team musste ein Trägermedium finden, das sowohl Ober- als auch Lederhautzellen ein Gerüst bieten konnte, in dem sich diese vermehren und verbinden konnten. Ein Mix aus Kollagen und Hydrogel erwies sich schliesslich als geeignete Lösung: In diesem Trägermedium konnten sich die beiden Zelltypen optimal vermehren. Nach 15 Jahren Forschungsarbeit war unser Hautersatz denovoSkin™ geboren.

Natürlich entwickelte Haut besteht jedoch aus mehr als nur aus Ober- und Lederhautzellen.

Genau. Deshalb arbeitet ein neues Forschungsteam nun an einer Weiterentwicklung des Hautersatzes (siehe Forschungsbericht «Der Qualität natürlicher Haut auf der Spur») : Diese enthalt einerseits Gefässzellen (sogenannte Endothelzellen), die dafür sorgen, dass die Haut schneller einwächst und nicht schrumpft. Andererseits enthält sie Pigmentzellen, sogenannte Melanozyten. Denn denovoSkin™ ist absolut weiss, und das ist vor allem bei Kindern mit dunklerer Haut ein Problem. Ein Wunschtraum für die Zukunft wäre eine Haut mit Schweissdrüsen und Haaren – aber dorthin ist es noch ein weiter Weg.

denovoSkin™ kommt bereits im Rahmen von klinischen Studien beim Menschen zur Anwendung. Welche Probleme musste man lösen, bis der Hautersatz so weit war?

Einerseits hatten wir Probleme bei der Herstellung zu lösen: Damit wir immer die gleiche Qualität erreichen konnten – etwa dass die Hautmatrix stets dieselbe Porengrösse aufwies –, mussten wir ein spezielles Kompressionsgerät entwickeln. Andererseits hatten wir auch mit regulatorischen Problemen zu kämpfen: Zum Beispiel verlangte das Schweizerische Heilmittelinstitut (Swissmedic) eine Garantie, dass sich die Transplantate beim Transport nicht umdrehen können, da man von blossem Auge nicht erkennen kann, auf welcher Seite des Hautersatzes die Ober- und die Lederhautzellen sind. Deshalb mussten wir ein massgefertigtes Transportgefäss entwickeln.

Welche Vorteile hat die im Labor hergestellte Haut im Vergleich zur Spalthaut?

Wir erhoffen uns, dass die im Labor hergestellte Haut elastischer ist als Spalthaut und dass sie dadurch besser mitwächst. Das wäre der grösste Vorteil. Ausserdem müssen die Kinder weniger Schmerzen ertragen, da sich der Behandlungsprozess verkürzt. Wenn bei Menschen 60 bis 80 Prozent der Körperoberfläche verbrannt sind, ist es ein Wettlauf gegen die Zeit, ihr Leben zu retten. Mit Spalthaut überlebten weltweit nur 20 Prozent der schwer brandverletzten Kinder, also eines von fünf. In den Fällen, in denen der Hautersatz zum Einsatz kam, überlebten vier von fünf.

Welche Probleme traten bei der Transplantation auf? Wie konnte das chirurgische Team sie lösen?

Das grösste Problem bei der Anwendung des Hautersatzes waren Blutungen unter der Haut. Wir haben nun ein Vorgehen entwickelt, um den Wundgrund vorzubereiten, damit es nicht zu solchen Unterblutungen kommt.

Im Rahmen der klinischen Studien, in denen der Hautersatz bis jetzt am Menschen zum Einsatz kommen konnte, waren nur 7 mal 7 Zentimeter grosse Stücke erlaubt. Konnten Sie bei lebensgefährlich brandverletzten Kindern auch mal eine Ausnahme machen und eine grössere Fläche mit Hautersatz abdecken?

Ja, das läuft dann unter «Compassionate Use»: In den letzten drei Jahren behandelten wir drei Patientinnen und Patienten, deren Körperoberfläche zu mehr als 90 Prozent verbrannt war und die mit den zugelassenen Standardbehandlungen nur eine geringe Überlebenschance gehabt hätten. Bei ihnen konnten wir mehr Hautersatz verpflanzen: Je einem Patienten in Leipzig und Zürich bedeckten wir sogar den ganzen Oberkörper mi Haut aus dem Labor. Beide haben überlebt.

Das Spin-off Cutiss hat sich zum Ziel gesetzt, die Hautersatz-Herstellung zu kommerzialisieren, indem es denovoSkin™ automatisiert herstellt. Welche Vorteile hat das? Was sind die Herausforderungen?

Der Vorteil der automatisierten Herstellung ist, dass der anfälligste Faktor für Fehler ausgeräumt ist: der Mensch. Denn das Gerüst aus Hydrogel und Kollagen mit den entsprechenden Zellen der Patientin oder des Patienten muss immer exakt identisch sein, damit der Hautersatz die erforderliche Qualität aufweist. Die Herausforderung ist, dass die Geräte zur Herstellung des Hautersatzes extrem teuer sind. Und die Vorgaben an die Labors, sogenannte GMP-Einheiten, sind ausgesprochen streng.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Dass wir es schaffen, die Behandlung mit Hautersatz aus patienteneigenen Zellen als Goldstandard zu etablieren – zumindest für schwer Brandverletzte.

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