Alina Bektashi, Patientin Zentrum Kinderhaut, Forschungsmagazin 2022
19.09.2022
Forschung

Alina steht fest im Leben – mit zwei unterschiedlichen Beinen

Die 10-jährige Alina lebt mit einem Lymphödem. Ihr rechtes Bein war fast doppelt so dick wie das linke. Dank einer spektakulären Operation hat sich die Schwellung stark verbessert und dem Mädchen geht es heute gut. Ohne Forschung wäre dieser Eingriff nicht möglich gewesen.

Es war ein Sonntagmorgen im April 2020, Mutter Albina erinnert sich noch ganz genau: Das rechte Bein ihrer jüngsten Tochter Alina, damals 7-jährig, war deutlich geschwollen. Sie hatte zwar keine Schmerzen, aber die Eltern machten sich trotzdem grosse Sorgen. Also gingen sie in die Notfallstation des nächsten Spitals. «Sie haben Alina untersucht, konnten aber nicht genau sagen, was mit ihr nicht stimmt», erzählt die Mutter. Zu Hause versuchten sie dann, Alinas Bein hochzulagern und mit kalten Kompressen zum Abschwellen zu bringen, aber ohne Erfolg.

Die Mutter blieb hartnäckig

Nach dem Wochenende gingen sie deshalb zum Kinderarzt. Auch dieser konnte auf Anhieb nicht helfen. Doch die Mutter wollte nicht so schnell aufgeben, sie erinnerte sich zurück an ihre Hirnblutung, die sie im Jahr 2019 erlitten hatte. Damals musste sie erfahren, wie wichtig es ist, von Spezialistinnen ausführlich untersucht und behandelt zu werden – nur so konnte Schlimmeres verhindert werden. «Ich sagte dem Kinderarzt, ich wolle, dass Alina intensiv untersucht werde. Also verwies er uns nach Zürich ins Kinderspital», erinnert sich Mutter Albina.

Die richtige Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Denn bei Alina wurde ein primäres Lymphödem diagnostiziert: In ihrem rechten Bein kann wegen einer Fehlbildung die Lymphflüssigkeit nicht richtig abfliessen. Das bedeutet, dass sie sich unter der Haut anstaut, was zu Schwellungen führt. Diese Schwellungen werden unbehandelt immer grösser, im fortgeschrittenen Stadium verdickt sich schliesslich auch die Haut und es kommt zu Einlagerungen von Fettgewebe.

Die Gene sind schuld

Je nach Grösse und Lage dieser Schwellungen, können sie den Alltag der Patientinnen und Patienten stark einschränken. Gewisse Bewegungen werden schwierig, die Betroffenen ziehen neugierige Blicke auf sich. In Alinas Fall ist das Lymphödem erblich bedingt. Die Eltern liessen deshalb Alinas jüngere Geschwister testen, ob auch sie genetisch vorbelastet sind. Das ist aber zum Glück nicht der Fall.

Heilbar sind Lymphödeme leider nicht. Aber mit der richtigen Therapie kann den Betroffenen ein möglichst beschwerdefreies Leben ermöglicht werden. Sie müssen zum Beispiel Stützstrümpfe tragen und regelmässig in die Lymphdrainage-Therapie, wobei der Abfluss der Lymphflüssigkeit mit speziellen Massagen gefördert wird. «Allerdings sind diese Behandlungen gerade auch für Kinder besonders unangenehm und zeitintensiv», erklärt Isabelle Luchsinger, Leiterin der Spezialsprechstunde Lymphödeme und Oberärztin für Dermatologie am Kinderspital Zürich. «Bei Alina schlugen wir zusätzlich einen operativen Eingriff vor.»

Lymphknoten vom Bauch in die Leiste transplantiert

Und zwar einen sehr speziellen: Denn zum ersten Mal in der Schweiz sollten bei einem Kind Lymphknoten transplantiert werden. Die Familie entschied sich dafür.

Der Eingriff fand am Universitätsspital Zürich (USZ) statt, mit dem die Fachleute des Kinderspitals in diesem Fall zusammenarbeiteten. Geleitet wurde sie von Nicole Lindenblatt, die am USZ stellvertretende Direktorin der Klinik für Plastische und Handchirurgie ist. Das Chirurgenteam entnahm zuerst aus Alinas Bauchraum ein Lymphknotenpaket. Dieses wurde dann an die Gefässe der Leiste ihres rechten Beines angeschlossen. Das geschah unter dem Mikroskop, denn die Gefässe sind nur ein bis zwei Millimeter dick. Bei Alina kam noch eine besondere Herausforderung hinzu: Sie hat einen sogenannten inkompletten situs inversus: ihre Organe im Bauch sind seitenverkehrt angeordnet. «Dank der zusätzlich in die Leiste eingesetzten Lymphknoten kann die Flüssigkeit besser abfliessen. Aber ganz abschwellen wird Alinas Bein dadurch nie», sagt Isabelle Luchsinger.

Schuhe in verschiedenen Grössen

Die Operation dauerte insgesamt fünfeinhalb Stunden und wurde minimalinvasiv durchgeführt. Das heisst, es wurden keine grossen Schnitte gemacht, was für die Patientinnen und Patienten weniger Schmerzen zur Folge hat, und die Narben sind viel kleiner.

Alina konnte schon nach wenigen Tagen Spitalaufenthalt wieder nach Hause. Ihr Bein sei viel besser geworden, freut sich die Mutter. Aber es sei schon immer noch deutlich dicker als das gesunde: «Alina ist eine kleine, sehr schmale Person. Da fällt das besonders auf». Die heute 10-Jährige muss nun zweimal pro Woche in die Physiotherapie, in der Nacht wird ihr Bein bandagiert, «tagsüber zwinge ich sie in Stützstrumpfhosen». Diese findet Alina besonders unangenehm, sie wird sie aber das ganze Leben lang tragen müssen. Ihr rechter Fuss ist zwei Nummern grösser als der linke, was beim Kaufen von Schuhen natürlich Probleme macht – und eine teure Angelegenheit ist. Die Eltern müssen jeweils zwei Paare in den unterschiedlichen Grössen kaufen. Auch kann die Primarschülerin nur sehr elastische oder sehr weite Hosen tragen.

«Gott, mach bitte meine Beine gleich!»

Je älter Alina wird, desto stärker stören sie die Blicke der Leute, zum Beispiel im Schwimmbad. Manchmal werde sie auch in der Schule ausgelacht. Am Abend bete sie deshalb oft und wünsche sich, dass ihr Bein gesund werde. Die Mutter versucht dann, ihre jüngste Tochter zu trösten: «Ich sage ihr, dass jeder Mensch von Gott etwas Besonderes bekommen habe, sie solle sich deshalb nicht über Hänseleien ärgern.» Zum Glück ist Alina sonst im Leben aber nicht eingeschränkt: «Sie rennt, geht in die Jugi, schwimmt und fährt Velo. Schmerzen hat sie nie.»

Die Dermatologin Isabelle Luchsinger hofft, dass die Therapien für Patientinnen und Patienten wie Alina künftig noch verbessert werden können. Die Ärztinnen und Ärzte wollen noch besser verstehen, welche Kinder genau von so einem Lymphknotentransfer profitieren könnten.  «Und vielleicht gelingt es uns eines Tages, das defekte Gen zu reparieren.». Für beides braucht es weitere intensive Forschung.